Vielfalt und Gemeinschaft - Migration nach Afrika - Selbst-, Fremdwahrnehmung und die Frage von "Integration"

von Matthias Gruber und Dr. Alexander Tillmann

Ziel des Unterrichtsvorschlages ist es, Schülerinnen und Schüler zu einem Perspektivwechsel auf die Themen Migration und Integration anzuregen und auf der Basis eigener Erfahrungen, Vorstellungen und Meinungen zum Thema zu reflektieren. Zentral für die Unterrichtseinheit ist ein Dokumentarfilm, der im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts AFRASO (Africa's Asian Options) entstanden ist und als Anregung für ein eigenes Filmprojekt der Schülerinnen und Schüler dient (ab Klasse 9).

Mobilität als Lebensentwurf - Migration und Integration asiatischer Handler in Südafrika

Bis zu einer halben Million Menschen sollen in den letzten 25 Jahren aus der Volksrepublik China nach Südafrika emigriert sein. Diese massive Bewegung von Menschen von Asien nach Afrika ist zwar einerseits Resultat der politischen Veränderungen in China und Südafrika und der Liberalisierung des globalen Handelns, kann aber auch als Fortführung und Verstärkung älterer Formen von Mobilität, Emigration und Immigration verstanden werden. Basierend auf Feldforschungen in Johannesburg werden Lebensentwürfe, Migrationserfahrungen und soziales Handeln chinesischer Migranten thematisiert. Am Ende steht der Versuch diese Konzepte mit den in Deutschland gängigen Vorstellungen von Migration und Integration zu vergleichen.

Schon vor der sogenannten "Flüchtlingskrise" bestimmten Bilder von Bootsflüchtlingen aus Asien und Afrika unser Bild von Migration und Zuwanderung. Der Zuzug von Menschen wird dabei häufig als krisenhaft und Bedrohung oder als Bereicherung für unsere Gesellschaft wahrgenommen. Mit dieser Wahrnehmung geht einher, dass Migration mit Integration gedacht und als Anpassung an eine kaum greifbare Mehrheitsgesellschaft verstanden wird. Migration wird höchst unterschiedlich bewertet und diese Bewertung setzt nicht zuletzt bei wirtschaftlichen Fragen an. Während die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte den beklagten Fachkräftemangel in unserer Gesellschaft lösen soll, und hier scheinen Fragen der Integration nur eine untergeordnete Rolle zu spielen, werden Migranten ohne solche Ausbildung schlimmstenfalls zu Wirtschaftsflüchtlingen degradiert. Einzelne Migranten sind also gezwungen sich für ihr Handeln zu rechtfertigen und ihre Rechtfertigungsgründe können ethischer Natur sein oder sich an ihrem Beitrag zum wirtschaftlichen Allgemeinwohl der Aufnahmegesellschaft messen. All dies ist in keiner Weise ein neues Phänomen, sondern schon lange Realität, wie sie gerade in der Schule evident wird, in der viele Schüler und Lehrer eine eigene Migrationsgeschichte haben oder die Erfahrungen von Mobilität und Zuwanderung in die Familiengeschichte eingeschrieben ist. In den aktuellen Diskussionen des Themas werden jedoch einige Bereiche kaum, beziehungsweise überhaupt nicht angesprochen. Das betrifft die Geschichtlichkeit von Migrationsbewegungen und bedingt durch die Fokussierung auf Europa, die globale Dimension von Ein- und Auswanderung. Ein weiterer, kaum berücksichtigter Punkt ist wie sich Migration in den bebauten Raum einschreibt.
Der Unterrichtsvorschlag soll Schüler und Lehrer zu einem Perspektivwechsel anregen, in dem sie diese beiden Dimensionen an Hand eines Beispiels betrachten, das auf den ersten Blick Fremdheit und Befremdung evoziert. Konkret geht es um die Migration aus Asien nach Afrika, oder genauer: von China nach Südafrika. Dieser Perspektivwechsel soll dazu anregen, die eigene Sicht und Wahrnehmung auf Migration und Integration, so wie Fragen der Vielfalt von Gesellschaft neu zu überdenken. Zudem regt dieser Wechsel der Sichtweise an, verfestigte Afrikabilder in Zeiten der Globalisierung in Frage zu stellen.
Im Mittelpunkt der Einheit steht der Dokumentarfilm "Just another Chinese Guy" (2015, 16Min) von Melanie Gärtner. Der Film begleitet Angus, einen jungen Erwachsenen, der mit 13 Jahren aus der Volksrepublik China in die südafrikanische Metropole Johannesburg kam und seit dem dort lebt. Die Zuschauer folgen Angus zu den Orten in denen sich in der Metropole Johannesburg chinesisches Leben manifestiert. Angus stellt seine Freunde vor und reflektiert über seine Stellung und Situation als Zuwanderer in Südafrika. Schließlich demonstriert er den Zuschauern noch sein "exotisches" Hobby. Er spielt den Great Highland Bagpipe, den schottischen Dudelsack. Mit der Fokussierung auf einen erzählenden Protagonisten verweist der der Film auf die Vielschichtigkeit einer "Gemeinschaft im Entstehen". Afrika ist für Angus und seine Bekannten nicht der Kontinent der Hungersnöte und der Epidemien, sondern ein Kontinent der Möglichkeiten, der zur Heimat geworden ist. Angus Bekannte Conny ist erst seit vier Jahren in Johannesburg und hat trotz sprachlicher Barrieren ihr eigenes Geschäft etabliert. Er bewundert nicht nur ihr Geschäftsmodell, sondern ebenso ihre Persönlichkeit. Sein Freund Scott sieht seine Ankunft in Johannesburg als Chance, den Zwängen einer restriktiven Gesellschaft in China zu entkommen und gemeinsam mit Angus seinem Hobby nachzugehen. Für Andy einen weiteren jungen Chinesen läuft es weniger gut, er ist Kellner in einem Chinarestaurant und würde lieber früher als später wieder nach China zurück.
Folgt man dem kurzen Ausflug in Angus Alltag wird deutlich, dass Migration hier nicht in Kategorien wie Integration oder gar "Assimilation" gedacht werden kann. Angus versteht sich als Chinese in Südafrika. Er ist in Johannesburg zur Schule gegangen hat dort studiert. Er ist Johnnesburger und kein Fremder in der südafrikanischen Gesellschaft, sondern als Chinese ein Teil von ihr. Neben seiner Stellung als Mittler zwischen seinen chinesischen Freunden, seiner Familie und dem Leben in Südafrika beschreibt Just another Chinese Guy auch wie sein Hauptprotagonist versucht ein Leben aufzubauen, das sich von den Lebensmodellen der Eltern und seiner älteren Geschwister abgrenzt. Die unterschiedlichen Charaktere seiner Freunde deuten darauf hin, das Erfahren und Erleben von Migration ganz individuell sein kann. Die Orte in die Angus den Zuschauer führt wirken exotisch und vertraut zugleich und bieten Momente des Erkennens und der Befremdnis. Das Johannesburg durch das Angus führt hat nichts mit gängigen Afrikabildern zu tun. Der Film führt in die Einkaufszentren in denen hauptsächlich Chinesen Importwaren aus China für den afrikanischen Markt anbieten. Er portraitiert die Chinatown im Stadtteil Cyrildene, die zu den Touristenattraktionen Johannesburgs gehört, aber auch als "ethnische Enklave" eine bedeutende Anlaufstelle für Neuankömmlinge ist und zentraler räumlicher Bezugspunkt für die chinesische Gemeinschaft dient. Anhand dieser örtlichen Manifestation wird deutlich, wie sich Migration in die Geographie der Stadt einschreibt. Der Film schließt mit einer Szene, die Angus und Scott im Kilt beim Dudelsackspielen zeigt. Die Aufnahme entstand in einem Johannesburger Park, der während der europäischen Herrschaft angelegt wurde. Auf der für die Region typischen roten Erde stehend spielen die beiden eingerahmt von europäischer Flora den Dudelsackstandard "The Green Hills of Tyrol". Folgt man dem Film und seinen Protagonisten, zeichnet sich ein Bild von Afrika, das wenig mit gängigen Bildern von Unterentwicklung und Armut zu tun hat. Schon durch sein ungewöhnliches Hobby wird ein Bezug zu Europa hergestellt, an dem deutlich wird, dass Migration kein isoliertes regionales Phänomen ist, sondern im globalen Kontext gedacht werden muss. Dadurch ist der Film anschlussfähig an die Erfahrungen deutscher Schüler, für die Migration und Integration in unterschiedlicher Form Teil des eigenen Lebens sind.
Der Film ist jedoch nicht ganz selbst erklärend. Migration von China nach Afrika kann nicht ohne den Bezug zur Geschichte und die Einbettung des Themas in einen globalen Kontext gedacht werden. "Just Another Chinese Guy" ist das Ergebnis der einer Zusammenarbeit Melanie Gärtners mit dem Ethnologen Matthias Gruber. Der Film entstand im Rahmen Forschungsprojekt "Africa's Asian Options" (AFRASO). Gefördert durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung arbeiten Wissenschaftler der Goethe Universität Frankfurt zu den Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten Afrika und Asien in vergleichender und transregionaler Perspektive. Ein thematischer Schwerpunkt sind dabei Handelsnetzwerke zwischen den Kontinenten, die Matthias Gruber in Südafrika, die das Thema aus Sicht der Akteure, in diesem Fall chinesischer Händler in Johannesburg untersucht. Handel nicht nur den Austausch von Waren und die Bereitstellung von Dienstleistungen, sondern betrifft auch Fragen der Mobilität, Migration und dem Entstehen von Gemeinschaften, wenn sich Migranten, längerfristig niederlassen. Diese Idee von "Integration" als Prozess der Entstehung einer neuen Gemeinschaft kann mit Blick auf eigene Vorstellungen von Integration und im Vergleich zur Idee einer Integration als "Einfügen in eine Gesellschaft", die sich möglichst wenig verändern soll, im Unterricht vertieft reflektiert werden.

Materialien

M1

Dokumentarfilm "Just Another Chinese Guy" von Melanie Gärtner

M2: Geschichte der chinesischen Migration nach Südafrika (PDF)

M3: Stadtentwicklung Johannesburgs (PDF)

Aufgaben:

Aufgabe 1: Sieh dir die ersten sieben Sekunden des Films "Just Another Chinese Guy" (M1) an (bei Sekunde 7 den Film stoppen!). In welchem Land könnte der Film gedreht worden sein? Schreibe deine Vermutung auf und beschreibe, an welchen Anhaltspunkten Du deine Vermutung festmachst. (z.B. anhand von Bildelementen, Strukturen, …).

Aufgabe 2: Beschreibe die Motive/Gründe für die Migration der unterschiedlichen Akteure / Protagonisten des Dokumentarfilms (Stichpunktartig für Angus, Conny, Andy und Scott)..

Aufgabe 3: Was meinst du? Wer "profitiert" von der im Dokumentarfilm gezeigten Zuwanderung? Nenne deine Meinung und begründet diese..

Aufgabe 4: Wie schreibt sich Migration in die Geographie der Stadt Johannesburg ein? Erläutere..

Aufgabe 5: Inwiefern schreibt sich Migration nach Deutschland in die Geographie deines Wohnortes ein? Gehe zur Beantwortung dieser Frage auf Spurensuche in deinem Wohnort und erläutere welche Anzeichen für Migration in der Geographie der Stadt euch auffallen..

Aufgabe 6: Lies den Text über die Geschichte der chinesischen Migration nach Südafrika (M2) und fertige einen Zeitstrahl an, der die jeweilige Situation der chinesischen Migranten kurz beschreibt..

Aufgabe 7: "Ich bin dann mal weg." Wie wäre es, wenn ich auswandere? Entwirf eine eigene zukünftige Lebensgeschichte, in der Migration eine Rolle spielt..

Aufgabe 8: Lies den Text über die Stadtentwicklung Johannesburgs (M3) und liste Faktoren auf, die Migration aus China nach Südafrika befördern und welche die Migration hemmen..

Aufgabe 9: Erläutere die sozioökonomischen Gegensätze, die Johannesburg kennzeichnen und liste mögliche Ursachen auf. Nutze dazu eine Atlaskarte zu Johannesburg (z.B. Diercke Weltatlas).

Aufgabe 10: Was bedeutet Migration für Individuen und was für die Gesellschaft, die Migranten aufnimmt? Erläutere..

Aufgabe 11: Drehe einen eigenen Dokumentarfilm, indem du die Migrationsgeschichte eines Menschen aus deiner Umgebung und sein Leben in Deutschland dokumentierst. Nutze als Vorbild bzw. Vorlage den Film "Just Another Chinese Guy" (M2). Das alltägliche Leben, Freunde und Verwandte, Arbeit und Freizeit können Elemente des Films darstellen. Leitfragen des Films könnten u.a. sein:

  • Woher kam der Impuls für die Migration, was war der Anlass?
  • Welche Vorstellungen von Deutschland gab es vor der Migration?
  • Wie wurde die erste Zeit in Deutschland nach der Migration empfunden?
  • Wie wird das jetzige Leben in Deutschland wahrgenommen?
  • Welche Pläne bestehen für die Zukunft?

Aufgabe 12: Diskutiert auf Grundlage der von euch produzierten Dokumentarfilme die Frage: Was ist gelungene "Integration"?.